Studierende der Universität Potsdam berichten über “Verquere Verortungen. Festival Jüdischer Literaturen”
Vom 3. bis zum 5. Dezember 2019 fand in Kooperation von DAGESH. KunstLAB ELES, ELES und Literaturhaus Berlin „Verquere Verortungen. Festival Jüdischer Literaturen“ statt. Rund 30 zeitgenössische jüdischer Autor_innen nahmen teil, darunter Dmitrij Kapitelman, Nele Pollatschek, Eva Menasse, Channah Trzebiner, Dani Levy, Max Czollek, Robert Schindel, Noam Brusilovsky, Tomer Gardi, Esther Dischereit, Adriana Altaras und Dana von Suffrin. Kuratiert von Eva Lezzi und Jo Frank, zeigte „Verquere Verortungen“ die Vielfalt gegenwärtiger jüdischer Literaturproduktion unterschiedlichster Genres – von Prosa, Lyrik, Hörspiel und Film.
Im Rahmen des Seminars „Jüdische Literaturen der Gegenwart“ besuchten 16 Studierende des Instituts für Jüdische Studien und Religionswissenschaft/Institut für Germanistik an der Universität Potsdam das Festival. Ihre Eindrücke und Reflexionen hielten die Studierenden in Blogbeiträgen fest. Eine Auswahl dieser Beitrage veröffentlichen wir hier. Wir danken allen Studierenden für ihre Texte!
Erster Festivaltag
„Was macht jüdische Literatur aus?“
“Literatur ist Kommunikation, ist Kunst, und Kunst soll Räume öffnen. Sie ist ein Machtinstrument, welches für politische Hetze missbraucht wird. Deshalb braucht es Literatur, um den Raum der Hetze, Gewalt und Intoleranz wieder zurückzuerobern und zu beanspruchen. Diesen Raum gab das Festival „Verquere Verortungen. Festival Jüdischer Literaturen“. Verquer, weil gute (jüdische) Literatur vom üblichen abweicht. Jüdisch in Klammern, weil sich unweigerlich die Frage stellte, was es bedeutet, was jüdische Literatur ausmacht. Verquere Verortung sollte keine Definition jüdischer Literatur bereitstellen, sondern sich mit der Frage beschäftigen, wie diese verstanden wird.
Den Auftakt des Festivals machten Maxim Biller, der spontan für Rachel Salamander eingesprungen war, Jo Frank und Eva Lezzi. Gemeinsam diskutieren sie über die Frage „Was ist jüdische Literatur?“ Maxim Biller sagte, dass er einfache Literatur schreiben wolle, die für jeden verständlich sei, die über den ersten Hype hinaus überlebe. Für ihn bedeute das, Literatur zu schaffen, die nicht ideologisch sei, auch wenn sie ideologisch gelesen werden könne. Denn was er nicht möchte, sei, mit Literatur zu provozieren. Und doch tat Maxim Biller genau das. So kritisierte er Schriftsteller, deren Großväter vielleicht Juden waren und die nun von sich behaupten, jüdische Literatur zu schreiben. Die Frage nach der Definition jüdischer Literatur konnte in dieser Debatte bei weitem nicht beantwortet werden.” Katharina Witzke
„UnHeimliche Familiengeschichten“ – Dmitrij Kapitelman und Nele Pollatschek im Gespräch mit Janika Gelinek
“Im zweiten Panel des ersten Tages stellten zwei Autor_innen der jüngeren Generation ihre Werke vor. Für beide galt als Ausgangspunkt, welchen Einfluss die biographischen Eckdaten auf die eigene Identität haben und wie man aus dieser elterlichen „Box“ klettern könne. Dmitrij Kapitelman stellte zuerst „Das unsichtbare Lächeln meines Vaters“ (2016) vor. In diesem Roman versucht Kapitelmann zu verstehen, was es für seinen Vater, der im sowjetischen Kiew aufwuchs, bedeutet Jude zu sein. In der Sowjetunion konnte der Vater seine jüdische Identität sowie individuelle Vorhaben kaum ausleben. Der junge Autor erwähnte als Beispiel den nicht gewährten Berufswunsch des Vaters. Sich selbst, Kind einer nichtjüdischen Mutter, bezeichnete er als halbjüdisches „Mängelexemplar“. Der junge Autor nahm den Vater und wahrscheinlich auch sich selbst lange Zeit als unsichtbar war. Diese negativen Erfahrungen ließen in ihm ein mentales inneres Gericht entstehen, das er als „emotionales Stechen“ beschrieb. Erst durch das Schreiben konnte er diese Erfahrungen aufarbeiten und sich als Schriftsteller neuen Themen widmen. Der Protagonist seines nächsten Romans wird interessanterweise ein Muslim sein.
Nele Pollatschek stellte „Das Unglück anderer Leute“ (2016) vor. Ihr Debüt handelt vom Aufwachsen in einer jüdischen Patchwork-Familie. Pollatschek stellt sich mit ihrem Roman auf kreative Art und Weise einer verengten Sicht auf die Frage entgegen, was jüdisch sei und was nicht. Sie zeigt zudem, wie eine Familie emotionale Identitätsbrüche bei den Kindern verursachen kann. Im Gespräch erwähnte die Autorin, dass sich ihr kritischer Umgang mit dem Jüdischsein in ihrem Sprachstil zeige. Dieser wirkte schroff und direkt. Pollatschek schrieb ihren Roman in England. Dort empfand sie den britischen Nationalstolz als erfrischend. In Deutschland hingegen spüre sie bei den Deutschen immer noch ein Gefühl der Mitschuld, der ein gesundes Ausleben dessen verhindert.” Mark-Philipp von See
Zweiter Festivaltag
„Inszenierungen des Jüdischen“ – Dani Levy und Jeff Wilbusch im Gespräch mit Eva Lezzi
“Schon als Eva Lezzi den ersten ihrer beiden Gesprächspartner vorstellte, wurde die „UnMöglichkeit“ der Inszenierung des Jüdischen deutlich: Sie verwende Dani Levys „Alles auf Zucker“ im Unterricht, um US-amerikanischen Studierenden einen Einblick in das Judentum im deutschsprachigen Raum zu geben. „Und damit sind die nach Hause gegangen?!”, rief es aus dem Publikum. Eine Antwort blieb aus, aber doch war klar, wie relevant das Thema war. Bei Eva Lezzi auf dem Podium saßen Jeff Wilbusch und Dani Levy, um an diesem zweiten Tag des Festivals über Theater und Film und die Verortung von jüdischer Identität hierin zu sprechen.
Jeff Wilbusch kommt aus einer chassidischen Familie in Israel, einer Gemeinde, die er mit 13 Jahren verließ, studierte in den Niederlanden Wirtschaftswissenschaften und wurde Schauspieler. Dani Levy kommt aus einer Familie, die, wie er sagte, „Gebrauchsjudentum“ praktizierte, er deutete an, wie der Vater an Pessach die Haggadah durch schnelles Herunterleiern hinter sich brachte, immerhin gab es Mazzeknödel. Aber wie inszeniert man nun „das Jüdische“? Dani Levy gab zu, dass das Jüdischsein für ihn eine untergeordnete Rolle spielte, als er 1980 von Basel nach Berlin zog. In seiner Beziehung zu Maria Schrader habe es ein Wiedererwachen des Jüdischen gegeben – und die Erkenntnis, dass er hier in Berlin eine Aufgabe habe, ein Dasein, das er seinen Vorfahren, Eltern und seinem Volk schuldig sei. 2004 entstand „Alles auf Zucker“. Jüdischsein in diesem Land sei, so Levy, nun außerhalb der Opferrolle etabliert worden. Die Frage, ob Selbstinszenierung und Darstellung auch mit Vorsicht zu genießen seien, warf Jeff Wilbusch etwas später auf. Er arbeitete gerade an einer Serienproduktion basierend auf „Unorthodox“ von Deborah Feldman, Regie Maria Schrader. Eine Produktion, die ihn sowohl an eine verdrängte Zeit erinnerte, aber auch zu seiner Muttersprache Jiddisch zurückführte und ihn seine Familie besser verstehen ließ. Wilbusch bezeichnete die Mitarbeit in der Produktion als ein „Geschenk“. Die Darstellung der ultraorthodoxen Satmarer Community in New York sei sehr authentisch, auch dadurch, dass die Hälfte des Textes auf Jiddisch sei. Er habe das Gefühl gehabt, dass man so auch der Gemeinde näher komme: „Plötzlich habe ich verstanden, was sie versuchen zu schützen – sie wollen die sechs Millionen zurück“. Nachdem Eva Lezzi einen kurzen Ausschnitt aus Levys Film „Joshua“ zeigte, kam die Frage nach Humor im Film, dezidiert jüdischem Humor und Humor als Waffe auf. Levy sprach über seinen Film „Mein Führer“ und die Rezeption, die sehr kritisch gewesen sei, eben weil er humoristisch gearbeitet habe. Wilbusch mahnte noch einmal an, dass wir das Böse in uns haben und genau dem in die Augen schauen müssen. Man könne die Geschichte nicht aufarbeiten, wenn man sich dem nicht nähere. Das Jüdische lasse sich inszenieren, auf unterschiedliche Weisen. Es berge genau hier die Chance, verstanden zu werden, sich anderen und sich selbst zu erklären, das könne so ambivalent wie die eigene Vielheit sein und auf Kritik stoßen, aber es sei nicht unmöglich.” Anna Bertram
„Festival Jüdischer Literaturen“ – ein Rückblick
“Was bleibt, nach drei Tagen „Jüdischer Literaturen“? Waren sie der Beweis dafür, dass es nach dem Bruch, nach der Shoah, wieder ein lebendiges jüdisch-literarisches und künstlerisches Leben im „deutsch-sprachigen Raum“ gibt, wie Hannah Peaceman in ihrer Zusammenfassung ausführte? Oder bleibt, wie es bei Jo Frank durchschien, auch etwas Enttäuschung darüber zurück, dass sich wieder einmal zu sehr auf das Biographische der Autor_innen und Künstler_innen konzentriert wurde? Wurden eher weitere Grenzen gezogen zwischen „Deutschen“ und „Juden“ als „neue Räume zu öffnen“, wie Frank es sich in seinem Eingangsplädoyer gewünscht hatte?
Vielleicht bleiben beide Eindrücke: dass es viele starke, auch viele neue, junge Stimmen in der – will man sie denn so nennen? – deutschsprachigen jüdischen Literatur gibt und dass es andererseits immer noch viel wechselseitige Fremdzuschreibungen, Exotisierungen und Essenzialisierungen gibt, die fortbestehen.
Das große Potenzial der vertretenen Künstler_innen, zum Lachen, Weinen und nicht zuletzt zum kritischen Nachdenken anzuregen, trat an mancher Stelle voll zu Tage. Gerade dort, wo es keine Erzählerin gab, die auf die Autorin zurückgeführt werden konnte, machte das Zuschauen und Zuhören besonders viel Spaß. Das schien besonders gut zu gelingen, wenn es um Lyrik, das Übersetzen und die (audio-)visuelle Kunst ging. So ergriffen beispielsweise die Gedichte von Max Czollek und Zehava Khalfa, die beide – in ganz unterschiedlicher Weise – von einem großen Bewusstsein der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zeugten. Irina Rubina gab Einblicke in ihre Annäherung an Ossip Mandelstam als Animationsfilmerin und dachte dabei laut über ihre Farbwahl nach, die unter anderem die Hoffnung darstellen sollte, die Mandelstam selbst in dunkelster Zeit in seiner Poesie fand. Und die Übersetzerin Anne Birkenhauer gab Anstöße weiter nachzudenken über das Verhältnis von Sprachen, besonders zwischen der deutschen und der hebräischen, und die schaffende Kraft, die in Übersetzungen liegen könne.
Auch die große Mehrheit der Lesungen der Autor_innen, die Romane veröffentlicht haben, bewegten das meist sehr konzentrierte Publikum. Es wurde viel gelacht im Saal und manchmal war es mucksmäuschenstill, etwa, wenn Adriana Altaras aus ihrem Buch „Die jüdische Souffleuse“ las und diese der Ich-Erzählerin von ihrem Vater erzählte, der im Sonderkommando den Holocaust überlebte.
Sicherlich, nicht alles konnte in zweieinhalb Tagen beantwortet werden. Was bleibt, sind offene Fragen und angefangene Diskussionen zu Themen, die immer wieder gestreift wurden: Desintegration, Selbstermächtigung und Vielfalt. Die Aufforderung Jo Franks, nicht das Schreiben, sondern auch das Lesen als politische Praxis zu betrachten, nahm ich jedenfalls mit nach Hause.” Josefine Langer